Borussia Dortmund wirft die Klopp-Jahre über Bord (2024)

Auf das ernüchternde 0:0 bei Werder Bremen folgt ein euphorisches 4:2 gegen Heidenheim. Zum ersten Mal deutet Borussia Dortmund an, was mit dem neuen Trainer Nuri Şahin und dem neuen Kader alles möglich sein könnte. Doch der beste BVB aller Zeiten ist es noch lange nicht. Trotz gegenteiliger Fragen.

Jeder kennt diese Menschen. Aus dem Nichts melden sie sich. Jahrelang waren sie verschwunden, lebten ihr Leben und alles war gut. Dann plötzlich der Anruf, weil etwas passiert, was unweigerlich die Erinnerung zurückbringt. Den Fans von Borussia Dortmund ist genau das am gestrigen Abend passiert. Das 4:2 (3:1) gegen Heidenheim im heimischen Westfalenstadion weckte ein Gefühl, das lange nur noch Abschiedsspiele vermitteln konnten. Für Sie, werte ntv.de-Leser, beantworten wir deswegen nun die wichtigsten Fragen rund um den BVB.

Sehen wir gerade den besten BVB aller Zeiten? Wer mit so einer Frage beginnt, hat wirklich wenig verstanden. Wer mit so einer Frage beginnt, will nur provozieren. Diese Frage kann nicht beantwortet werden. Schon gar nicht nach drei Spielen einer neuen Saison. Und auch nicht nach einem 4:2 gegen Heidenheim. Aber so sind diese Anrufer eben.

Hallo! Es war der erste Bundesliga-Sieg überhaupt gegen Heidenheim. Es war das dritte Spiel überhaupt gegen Heidenheim. Irgendwann musste das passieren. Aber die Art, wie der BVB in den ersten 20 Minuten über den Conference-League-Teilnehmer herfiel, war sehenswert.

Dabei hat sich besonders Karim Adeyemi ausgezeichnet. Sieben Tore in drei Spielen. Fünf für die U21 und zwei für den BVB. Was ist eigentlich mit ihm passiert? Adeyemi ist einer dieser Spieler, die in der Lage sind, die Beobachter in den Wahnsinn zu treiben. Es sind nicht die guten Spiele, die diesen Wahnsinn auslösen, sondern die fehlende Konstanz, die immer nahe an der Arroganzgrenze segelt und deswegen noch gravierender daherkommt. Julian Brandt durchlitt diese Krisen auch immer wieder. Er brauchte Jahre, um sich seine heutige Rolle zu sichern. Brandt treibt die Menschen nur noch selten in den Wahnsinn. Er spielt seine Klasse aus, ist vielleicht das neue Gesicht von Borussia Dortmund. Der Spieler, der international mit dem Klub verbunden wird. Das ist für Adeyemi noch ein langer Weg. Aber immerhin ist er aufgebrochen.

"Genau das wollte ich hier erreichen: erstmal der Mannschaft helfen, natürlich gewinnen, aber auch für mich selber ein bisschen Selbstbewusstsein tanken, Tore oder Assists machen. Die habe ich gemacht und darüber bin ich sehr glücklich", hatte Adeyemi nach seinen fünf Treffern für die U21 gesagt: "Das sollte mein Standard sein." Eine eigentlich vermessene Aussage, die der 22-Jährige jedoch mit zwei Treffern und einem Assist unterfütterte. Der von Trainer Nuri Şahin auf der linken Angriffsseite eingesetzte Adeyemi spielte mal seine Schnelligkeit aus, zog mal überlegt in die Mitte und traf zweimal mit seinem schwächeren rechten Fuß. "Der Trainer hat mir heute vertraut und ich habe ihm gezeigt, dass ich da bin", sagte Adeyemi und sagte das, was Fußballer so sagen. Die Position sei ihm egal, "Hauptsache offensiv" und dann werde das schon.

In dem am Freitag präsentierten System mit Guirassy als zentralem Ablenkungsstürmer, der Räume reißen kann und um den die anderen Angreifer herumspielen können, fühlte sich Adeyemi auf jeden Fall sichtbar wohl.

Zeichnet eine Nummer 9 neuerdings aus, dass man um sie herumspielt? Natürlich nicht. Aber der ehemalige Stuttgarter konnte in seinem ersten Auftritt bereits seine Qualitäten andeuten. "Er hat uns sehr viel gebracht: seine Präsenz, wie viele Bälle er festgemacht hat, wie häufig er gefoult wurde, wie gut er mitspielt", schwärmte dann auch gleich Sportdirektor Sebastian Kehl. Guirassy selbst blieb bescheiden: "Ich muss mich jetzt erstmal wieder auf meine Basics besinnen. Drei Monate ohne Spiel sind eine lange Zeit", sagte der 28-Jährige, dessen Wechsel zum BVB aufgrund einer Knieverletzung kurzzeitig sogar in Gefahr schien. "Ich kann noch nicht bei 100 Prozent sein. Dafür brauche ich jetzt mehr Spiele", sagte er und zwangsläufig dachten alle auch "mehr Tore". Sein Premierentreffer nach einem spektakulären Seitfallzieher verhinderte Heidenheim-Keeper Kevin Müller. Ansonsten aber war das, trotz einiger gravierender Fehlpässe, ein ansehnlicher Auftakt seiner Dortmunder Zeit.

Neuzugang Maxi Beier wirkte hingegen schon wieder komplett abgemeldet. Er kann dem Dortmunder Spiel nichts vermitteln. Ist er der nächste Hoffenheim-Flop in BVB-Farben? Der 21-jährige Beier hat vor etwas über einem Jahr noch in der zweiten Liga bei Hannover 96 gespielt. Nach seiner erstaunlichen Saison in Hoffenheim balgten sich etliche Klubs um den Jung-Nationalspieler. Der aber wird Zeit brauchen, um den großen Schritt zu einem internationalen Spitzenklub zu machen. Noch hat er nicht gemeinsam mit Guirassy auf dem Platz gestanden. Das aber, so erhoffen sie es sich am Borsigplatz, soll der Normalzustand werden. Noch einer, der von der Nummer 9 profitieren und in die von dem Guineer geschaffenen Räume stoßen soll.

Noch einmal zurück zu Adeyemi. Dem ist genau das ja exzellent gelungen. Er spielte um einiges besser als Maxi Beier. Kehrt er nun in das DFB-Team zurück? "Bei uns sagt man 'Inshallah'. Das heißt hoffentlich", sagte Adeyemi nach dem Spiel und gab damit die Richtung vor. Wenn es für die A-Mannschaft nicht reicht, dürfte der lockenköpfige Angreifer sich jedoch auch über weitere Auftritte in der U21 freuen. Sein Selbstvertrauen wird es ihm danken. Bis dahin jedoch stehen noch einige Spiele mit diesem neuen BVB auf dem Programm.

Könnte Übervater Jürgen Klopp etwas mit dem neuen BVB zu tun haben? Immerhin war er in der vergangenen Woche als Trainer im Stadion. Das Abschiedsspiel der beiden Vereins-Ikonen Lukasz Piszczek und Jakub Blaszczykowski hatte Klopp zurück an den Borsigplatz gelockt. Das Klassentreffen der Meistergeneration der 2010er-Jahre war ein Legendenspiel in bester englischer Tradition. Dort kommen bei den großen Vereinen die alten Stars in schöner Regelmäßigkeit zusammen und füllen das Stadion. Zukunft braucht Geschichte, eine Binse. Dafür braucht es aber eine sinnvolle Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Die hat es in Dortmund lange nicht gegeben.

Der Gedanke an eine Rückkehr Klopps und an den Rausch der wirklichen Klopp-Jahre vernebelte den Borussen viel zu lange die Sinne. Das war schon unter Trainer Edin Terzić nicht mehr so und das ist mit Şahin nun überhaupt nicht mehr so. Der Dortmunder Fußball der ersten zwanzig Minuten deutete an, dass Şahins Fußball den von Jürgen Klopp mitdenken will und vor allen Dingen auch kann. Das Pressing, die hohen Ballgewinne, die schnellen Umschaltbewegungen. Das war ansehnlich. "Die nächste Generation ist da draußen", sagte Klopp in Dortmund. "Wenn ich den Jungen mit Rat und Tat zur Seite stehen kann, mache ich das gerne. Aber in ihren Schuhen müsste ich jetzt nicht stecken." Muss er auch nicht mehr. Das war die große Erkenntnis des Abschiedsspiels.

Es war auch ein Abschiedsspiel für Mats Hummels. Der Verteidiger steht nun in Rom unter Vertrag. Mats Hummels ist der Hannes Wader des deutschen Fußballs. Er war in diesem Sommer heute hier und morgen da war, war kaum da und musste doch wieder fort. Bologna, Brighton, Mallorca, Madrid, San Sebastián. Die Welt stand dem Top-Verteidiger offen. Alle wollten den Kandidaten für den 2024er-Ballon d'or verpflichten, am Ende landete er in der Ewigen Stadt. Hummels ist immer noch ein großer Fan der Borussia. Das zeigte nicht zuletzt sein letztes Posting auf Instagram.

Beim Stand von 3:2 für seine Borussia zitterte der Rekordspieler um den Dreier gegen Heidenheim und dürfte glücklich gewesen sein. Für ihn, der wie Marco Reus über allen anderen Spielern thronte, geht es am Sonntag in Genua erstmals um Punkte in der italienischen Liga. Sein Abschied war eine Befreiung für die Borussia, wenngleich Nachfolger Waldemar Anton beim ersten Treffer der Heidenheimer seinen Einsatz verpasste und Niklas Süle mit seinem unglücklichen Beinwischer den Elfmeter zum zweiten Gästetreffer verursachte.

Emre Can ist immer noch da. Doch der Kapitän verbrachte den Großteil des Spiels auf der Bank. Und kam und stach sofort mit einem Elfmeter. "Jeder Fußballer möchte jedes Spiel machen", sagte Can nach dem Spiel über seine Jokerrolle. "Ich akzeptiere es. "Die Mannschaft geht vor und steht über allem. Ich versuche im Training und wenn ich reinkomme, Gas zu geben. Die Saison ist noch sehr jung und es werden noch wichtige Spiele kommen, in denen ich anfangen werde, von daher gar kein Problem." Dann lobt er noch Pascal Groß und auch Felix Nmecha, der zumindest andeutete, dass er in seiner zweiten Saison in Dortmund eine Verstärkung sein könnte. Dies war ihm im ersten Jahr überhaupt nicht gelungen.

Auch Marcel Sabitzer kam nur von der Bank, Juwel Julien Duranville debütierte kürzlich zwar für die belgische Nationalmannschaft, wartet in Dortmund aber weiter auf Einsatzzeiten. Das sind gute Nachrichten für Borussia Dortmund. Mit dem Auftakt in Brügge beginnt in dieser Woche die neue Champions League. Der letztjährige Finalist will sich dort erneut gut präsentieren und im Idealfall ohne den Umweg Hoffnungsrunde in das Achtelfinale einziehen. Dazu müssen sie am Ende der Ligaphase zu den besten acht Klubs gehören. Dafür brauchen sie einen tiefen Kader. Den haben sie zumindest im Mittelfeld und auf den Offensivpositionen.

Also ist das jetzt doch der beste BVB aller Zeiten seit Jürgen Klopps Abgang? Allein aufgrund dieser Frage erkläre ich diese Q&A-Session nun für beendet.